Kultur
   9 Jahre
Foto: Kirsten Lilli / Sabine Klem

Berlinale-Teddys 2015

Ein Streifzug von Kirsten Lilli durch die weltweit wichtigsten queeren Filmpreise als Ausblick auf das glbti-Filmjahr.
 
Die Teddy-Awards der Berlinale werden vergeben von einer Jury aus Festivalkurator*Innen von queeren Filmfestivals weltweit. Deshalb kann das queere Publikum die Filme der Berlinale-Queer-List später weltweit sehen, auch wenn sie es nicht regulär ins Kino schaffen sollten. Zumindest fast überall... Dass es in vielen Ländern der Welt noch immer eine lebensbedrohliche Frage ist, wer wo welche sexuelle und emotionale Orientierung hat, und dass dies vor kurzem sogar im Bundesstaat Virginia, USA, beinahe der Fall sein sollte, daran hat Berlins Bürgermeister A.D. Wowi erinnert.
 
Teddy für Thriller im Comedy-Drag – Rainbowfamily auf Abwegen:
 
In den Ländern, in denen es nicht mehr so lebensgefährlich ist, out zu leben, ist die aktuelle Tendenz der queeren Filmschaffenden, weit über den Tellerrand hinaus zu kucken. Voll und ganz in diesem Trend bekam „Nasty Baby“ von Sebastián Silva aus N.Y. den Teddy für den besten Spielfilm. Er führt deutlich vor Augen wie ambivalent Moral ist. Eine unglücklich formulierte Kurzbeschreibung des Films im Berlinale-Programm hat leider viele abgeschreckt. Besser ist, was der Regisseur selbst über den Film sagt: Es ist kein Pro-Gay-Film, auch kein Anti-Gay-Film, sondern Just Gay, so wie er selbst. Das queere Leben der Protagonisten mit ihren Gründungsbestrebungen zu einer Regenbogenfamilie ist die Voraussetzung dieses erst komödiantisch daherkommenden, sich langsam aufbauenden Thrillers, bei dem zum Schluss keine Rolle mehr spielt, wer hier wie gay ist, sondern eine ganz andere Frage im Vordergrund steht.
 
Teddy für pure Poesie - Überleben von queer Lebenden in Kenia:
 
Den Special Jury Teddy-Award bekam in jeder Hinsicht absolut zutreffend „Stories of Our Lives“ von Jim Chuchu aus Kenia, der auch noch die Musik zu seinem Film komponierte, die für sich selbst noch Award-Potential hat. Der äußerst poetische Film in schwarzweiß ist ein ruhiger Reigen von sehr berührenden Kurzfilmen. Die wirken noch stärker, wenn man weiß, dass es alles Inszenierungen wahrer Leben sind. Denn Mitglieder von Jim Chuchu´s multidisziplinären Kunstkollektiv „The Nest“ haben in ganz Kenia über Monate Interviews mit jungen LGBTI-Menschen über ihre aktuelle Lebenssituation gesammelt. Als der Regisseur den Teddy in Empfang nahm und diesen Menschen für ihre Geschichten dankte, kamen ihm die Tränen, denn der Film wird von ihnen in absehbarer Zeit nicht gesehen werden können, da er in Kenia verboten wurde. Und zum Schutz der Schauspieler in dem sehr homophoben Land wird der Film auch nicht übers Ausland im Internet zu sehen sein. 
 
Tröstende Langzeitdoku – Outes Coming-Of-Age im Biblebelt:
 
Von einer Insel in einer homophoben Umgebung erzählt ein anderer, echter Dokumentarfilm. "Misfits" des Dänen Jannik Splidsboel begleitet drei queere Jugendliche über einen Zeitraum von zwei Jahren. Sie haben im einzigen glbt-Jugendzentrum von Tulsa eine Alternativ-Familie gefunden, die sie dringend brauchen in dieser Stadt, die bei nur 40.0000Einwohnern 2.000Kirchen hat und damit charakteristisch ist für Amerikas fundamentalistischen, homofeindlichen Bibelgürtel. Dieser Film bildet quasi den dokumentarischen Hintergrund* für den folgenden Spielfilm... 
 
Verstörend wichtiger Film über fragile Identitäten 
– für Nicht-Queere nur mit Begleitdoku (s.o.*) empfehlenswert: 
 
Auf jeden Fall mutig, immer mit Sinn für das, was neu ansteht, ein von der Kunst besessen Arbeitswütiger, das sind Markenzeichen des schwulen Hollywoodschauspielers James Franco. Er war auf dieser Berlinale gleich in dreifacher Ausgabe zu sehen - charming, faszinierend und verstört oder verstörend:
Im Panorama, der traditionellen Sektion und ursprünglichen Heimat für queere und inhaltlich mutige Filme war Franco in der Hauptrolle von "I am Michael" zu sehen, den er auch koproduzierte. Ein sehr professioneller Debutfilm von Justin Kelly, der stark von James Franco lebt, der die Zuschauer mit Charme in die Abgründe seines Charakters mitnimmt. Der Film ist quasi DER Horrorthriller zur Theorie von Konstruktion und Dekonstruktion von Gender, der dies mal anders veranschaulicht.  Und er ist umso beunruhigender, weil er eine Inszenierung ist, die tatsächlich auf einem wahren Leben basiert: Der Wandel eines schwulen Aktivisten zum homofeindlichen Heteropriester. "I am Michael" ist ein Thriller, der thematisiert, wie fragil menschliche Identitäten sind, und zum Nachdenken anregt, dass Menschen sie vielleicht so oft mit allen Mitteln im Kampf gegen andere Identitäten bestärken, um die eigene innere Stabilität zu gewährleisten. Michael ist ein Charakter, der vor Augen führt, wie komplex und kompliziert die menschliche Psyche ist, wie groß der unberechenbare Einfluss von Traumata ist und was passieren kann, wenn zu dieser gefährdeten Mischung dann auch noch die philosophischen Grundfragen und zwischenmenschliche Interaktionen dazu kommen.
Die andere Hauptrolle spielt Franco in Wim Wenders "Everything Will Be Allright" - auch eine Langzeitcharakterstudie - über die Auswirkungen eines Unfalls, bei dem ein (hetero) Schriftsteller ein Kind auf dem Gewissen hat. 
Als drittes ist Franco bei Werner Herzog zu sehen als prägender Geliebter, auch wieder in einem Biopic: "Desert Queen" über das aus dem Stereototyp Gender der damaligen Frau stark herausstechende (hetero) Leben von Gertrud Bell, die als weiblicher Lawrence von Arabien in die Geschichte einging. 
 
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