Kultur
   11 Jahre
Foto: Yolla Niclas (1934)/ Querverlag

Gestohlene Tage – Gewonnener Pride

Das Besondere
„Gestohlene Tage“ von Heny Ruttkay ist ein Buch, das das gemeinsame Interesse verschiedenster Menschen an gesellschaftlicher Vielfalt deutlich macht. Es ist erfrischend – keine schon hundertfach erzählte Coming-out-Story mit dem üblichen amerikanischem Strickmuster nach dem Motto „Du mußt nur wollen...“, „Vom Tellerwäscher zum Milionär“ oder „Vom Schrankhomo zum glücklichen, in der Gesellschaft erfolgreichen LGBT-Leistungsträger“. In diesem Roman ist die Einbettung aller Menschen in ihren gesellschaftlichen Kontext zentral und damit die gesellschaftspolitische Bedeutung jedes individuellen Lebens.

Die Geschichte
Der historische Roman erzählt die Jahre 1932 bis 1933 abwechselnd aus der Perspektive einer Lesbe und eines Schwulen. Eva und Heinrich sind miteinander eine Scheinehe eingegangen, um der deutschen Provinz zu entfliehen und im homosexuellen Berlin die Freiheit zu suchen. In der Anonymität der Großstadt mit ihrem zu dieser Zeit noch schillernden homosexuellen Kosmos können sie zunächst ihre Identität und ihre Lieben leben. Doch kaum der erdrückend biederen Tradition entronnen, baut sich das Damokles-Schwert bereits drohend über allen von der gesellschaftlichen Norm Abweichenden auf. Ohne dass die beiden das begreifen, sind nicht nur sie selbst, sondern vor allem ihre Liebsten gefährdet – Heinrichs kommunistischer Lover und Evas jüdische Geliebte.

Die emotional-atmosphärische Analyse
Nur durch unsere Geschichte wissen wir, wohin wir gehen können. Heny Ruttkay webt eine atmosphärische Dichte, die Komplexität entspringt. Es gelingt ihr, Vieles, was man von damals an Fakten und auch Klischees kennt, zu Menschen mit ihren Geschichten werden zu lassen. Auch wenn die historischen Fakten nur am Rande gestreift werden, ist die Einbettung in die gesellschaftliche Realität in jedem Moment spürbar. Genau dadurch, dass der Roman die persönlichen Lebens- und Liebesgeschichten der beiden erzählt, sind dabei quasi nebenbei und doch faszinierend genau, die Mechnismen zu spüren, wie die faschistische Diktatur die Macht übernimmt: Erst wird der direkte Widerstand bekämpft, dann alle, die die engen Fesseln der gesellschftlichen Norm sprengen, so dass es keine Freiräume von der gesellschaftlichen Norm mehr gibt, keine Vielfalt mehr in Erscheinung treten darf, alle auf den Gleichklang der Marschrichtung getrimmt werden. In der Folge beginnt die Vernichtung der verbliebenen, zu Sündenböcken gestempelten, Minderheiten – der Holocaust, gepaart mit der Umverteilung von Reichtum und Macht auf die neuen Machthaber.

Das zukunftsweisende Selbstbewusstsein
Der Roman steht für radikalen GayPride, im wörtlichen Sinne von „radix“: an die Wurzel gehend. Klar wird, dass das LGBT-Selbstverständnis nicht nur die eigenen Menschenrechte im Auge haben sollte, sondern wie wichtig die Rolle aller LGBT-Menschen für die Gesellschaft ist: Nur in einer Kultur der Vielfalt bleibt die individuelle Freiheit für alle erhalten.
Der Roman erinnert also daran, wie falsch das zur Zeit übliche, ständige Feiern von Demokratie ist. Demokratie gab es auch 1933 schon in Deutschland, ebenso wie aktuell in vielen anderen Ländern, die Menschenrechte trotzdem mit Füßen treten. Dieses Buch ist ein Anlaß bei dem Brückenschlag von vor 80 Jahren zum Heute herauszustellen, wie wichtig es ist, zu differenzieren: Nicht Systeme, die auf der Macht der Mächtigen basieren, egal ob es Tradition, Reichtum oder sonstiger Einfluß ist oder Macht, die auf einer Mehrheit fußt, sondern nur ein rechtsstaatlicher Anspruch auf Wahrung der Menschenrechte mit so viel Gewaltenteilung als möglich, ermöglicht menschenwürdiges Leben. Der Reichtum an Kunst und Kultur, die Gängiges konstant in Frage stellt, zeichnet eine freiheitliche Gesellschaft aus.

Die Handlung als Demo
Bücherverbrennung am 10.5.1933 – Bücherkauf am 10.5.2013? Vielleicht unterstützen viele besondere Muttertagsgeschenke zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler – und ermöglichen Heny Ruttkay, die Fortsetzung zu schreiben. Denn die Nachwirkung ist stark mit den bleibenden Fragen, wie es mit mit den Held/inn/en des Romans nach 1933 weitergeht.

 
Schön, dass Du hier bist
Bitte melde Dich an, um diese Funktion nutzen zu können!

Passwort vergessen?

Noch kein Mitglied? Registrieren

Anmelden