Kultur
   10 Jahre
Foto: BOD

Jean auf der Suche nach sich selbst

Hans-Jörg lebt Mitte der 1980er Jahre mit seinen Eltern und seinen Geschwistern im Schweizer Mittelland auf einem Bauernhof in einem Dorf. In der benachbarten Kleinstadt geht er auf die Kantonsschule. Er macht sich selbst zu seinem 18. Geburtstag ein Geschenk: Er kommt an diesem Tag recht früh von der Schule, die Mutter bettelt ihn noch an, aber Hans-Jörg tut es trotzdem. Er sagt seinem Vater, dass er schwul ist. Und wie man es von einem hinterwäldlerischen Bauern erwarten darf, fällt dessen Reaktion auch aus: „Hau ab, mit so einem wie dir hocke ich nicht an einem Tisch!“

Hans-Jörg haut ab, er landet schließlich in Nizza. Um den absoluten Schnitt zu seinem alten Leben auch nach außen zu tragen, nennt sich Hans-Jörg nach seiner Ankunft Jean. So lernt er Sven kennen. Der große, schlanke und gut aussehende Mann Mitte 20 stammt aus Schweden und arbeitet als Stricher. Jean begleitet ihn in seine Wohnung, die durchaus einen üppigen Lebensstil vermuten lässt. Zwischen den beiden prickelt es von der ersten Sekunde an. Natürlich landen sie schnell im Bett und bleiben dort auch lange. Schnell stellt sich aber heraus, dass das, was zwischen den beiden passiert, weit mehr als nur Triebbefriedigung ist.

Sven fängt an zu planen, und schon bald baut er ein gemeinsames Leben mit Jean auf. Nur da ist noch Georges. Der attraktive Stammkunde von Sven ist wesentlich älter, wohlhabend und auch wesentlich mehr als nur ein Kunde. Sven führt seit sieben Jahren so etwas wie eine Beziehung mit ihm und auch wieder nicht. Obwohl er sich auf Georges hätte einlassen können, hat er sich immer seine Freiheit bewahrt und weiterhin als Stricher gearbeitet. Er hat Georges stets auf Abstand gehalten.

Es beginnt eine Menage à trois, in deren Mittelpunkt Sven steht, der aber beide Bereiche und beide Männer strikt trennt. Mit Svens Vermögen eröffnen die beiden jungen Männer ein Café am Hafen von Nizza, das schnell zu einem Erfolg wird. Jean’s Mutter ergreift ihre Chance, als sie eine Einladung von Jean erhält. Sie verlässt den Despoten, aber damit auch ihre anderen Kinder und geht ebenfalls nach Nizza. Jean’s Glück könnte perfekt sein, doch das Leben schlägt mit aller Härte zu. Sein Sven bricht zusammen und stirbt nach einigen Wochen an Aids.

Dieser Punkt könnte das tragische Ende einer Geschichte sein, aber in Fuchs’ Buch ist es nur der Dreh- und Angelpunkt für die nun folgenden Entwicklungen. Dabei zeigt sich, dass dieser Entwicklungsroman nicht nur schwul, sondern auch lesbisch und auch heterosexuell ist. Fuchs bleibt die ganze Zeit nah an Jean, selbst wenn er sich anderen Charakteren widmet, so verliert er seinen Jean nie aus dem Auge. Im Nachhinein betrachtet sind alle großen Entscheidungen dieser Geschichte logisch und mussten so passieren. Sei es die Entscheidung zu gehen, mit Sven zusammenkommen, nach dessen Tod in die Welt hinauszugehen und schlussendlich in Amsterdam an der Gracht zu sitzen und wieder aufzubrechen.

Als Leser begleitet man einen jungen Mann auf der Suche nach sich selbst, der auf dieser Reise sehr viel erlebt. Die Masse des Erlebten fordert ihren Tribut. Jean ist selbst ganz zum Schluss noch nicht wirklich bei sich selbst angekommen. Aber er hat schon ein großes Stück von sich gefunden.

Unbestritten hat hier ein Newcomer großes Erzähltalent und angenehme Sprache zwischen zwei Buchdeckel gebannt. Lesenswert und auch empfehlenswert, auf jeden Fall! Ich selbst habe mich von diesem Buch wirklich gut unterhalten gefühlt und bin gern immer wieder in die Seiten zurückgekehrt.

Raymund Fuchs: Grachtenfahrt, Ein schwuler Entwicklungsroman, Paperback, 296 Seiten, Books on Demand, ISBN 978-3-7322-5394-4, 22,00€, EBook 15,99€

 
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