Dr. Martin Goldstein (alias Dr. Sommer)
In der Bravo wäre mehr möglich gewesen! Ein Interview mit dem ersten "Dr. Sommer".
Sie haben 1969 die Sexualaufklärung bei der Bravo übernommen. Sind Sie ein typischer 68er?
Nein, überhaupt nicht. Ich verkörpere zwar eine neue, freiere Sexualaufklärung in der Bravo – aber ich war nicht politisch aktiv. Ich war nur ein introvertierter Sozialpädagoge, der an seinem Schreibtisch und in der Beratungsstelle arbeitete. Durch meine berufliche und private Einbindung habe ich die gesamte politische Situation auch gar nicht so zur Kenntnis genommen. Ich gehörte zwar zu denen, die die Freiheit in der Sexualität als Thema aufgegriffen haben, aber in einer ganz anderen Form als die typischen 68er. Die hielten zwar Sex für politisch, schlossen aber nur die genitale Sexualität in ihre Forderungen ein. Die mit Sex verbundenen Gefühle wurden von ihnen als unpolitisch angesehen. Eine Offenheit auf emotionalem Gebiet war dort entsprechend nur sehr schwach vertreten. Die 68er kommen aber bei mir dennoch gut weg, weil sie sexuell eine große Bresche geschlagen haben.
In Ihrem letzten Buch schreiben Sie, dass Ihre erste Liebe einem Jungen galt?
Ja, ich war damals in der 2. Klasse der Bielefelder Grundschule, als ich mich in einen Jungen verliebte, dem ich dann während des Unterrichts einen kleinen Liebesbrief schickte. Die Lehrerin fing diesen Brief ab und las ihn der ganzen Klasse vor, was mich stark getroffen hat. So etwas kann man als Pädagogin einfach nicht machen. Es ist da zu keiner näheren Verbindung gekommen. Ich habe mich auch nie verliebt in Jungs, mit denen ich alltäglich gespielt habe, aber andere, die ich kaum kannte, fing ich schnell zu bewundern an. Was das bedeutete, war mir aber noch unklar. Andere gleichgeschlechtliche Erlebnisse von mir habe ich dann auch in einer Dr.-Korff-Geschichte niedergeschrieben, die später indiziert wurde.
Die 1972 in der Bravo geschilderten Erlebnisse waren also Ihre eigenen?
Ja, die im Heft 7 geschilderten Erlebnisse des 12-jährigen Udo stammen von mir; das entsprechende Heft wurde kurze Zeit später zusammen mit dem Heft 6 indiziert. Ich kann mich noch erinnern, wie einer aus unserer Klasse vor der ganzen Gruppe onanierte. Als er seinen Orgasmus hatte und es so schäumte, habe ich gedacht, das wäre eine Krankheit. Und ein älterer Schüler meinte nur: Das machen Erwachsene, wenn die Kinder kriegen wollen. Das war es. Ich war still am Staunen und habe nichts verstanden. Und das spätere Erlebnis mit dem gemeinsamen Onanieren war halt so eine Wette, wer als Erster zum Orgasmus kommt. Diese Erlebnisse hatten für mich aber keinen besonderen Rang und waren eher beiläufig. Ich würde das auch nicht als erste sexuelle Erfahrung ansehen. Die ersten sexuellen Erfahrungen fangen im Babyalter an und begleiten einen durch das ganze Leben – nur in unterschiedlicher Form. Ich halte es für viel zu einseitig, wenn als sexuelle Erfahrungen nur der Geschlechtsverkehr mit einem erigierten Glied in der Scheide angesehen wird.
Waren Sie bzw. die BRAVO-Redaktion von den Indizierungen überrascht?
Ja, total. Eigentlich hatte ich doch nur geschrieben, dass Onanieren weder krank noch schwul noch unfruchtbar macht und dass nicht nur Jugendliche, sondern auch Polizisten und Lehrerinnen onanieren. Das hat dann aber vor allem Christa Meves, als Vorsitzende vom Lehrerinnenverband, auf die Barrikaden gebracht. Die ist ja auch eine erklärte Gegnerin der Schwulenbewegung und extra katholisch geworden, weil ihr die Evangelen zu lau waren. Leider sind ja die Urteile der Bundesprüfstelle nicht revidierbar und man hat auch keine Möglichkeit, sie durch Gegengutachten zu Fall zu bringen.
Was die Redaktion in München anging, hab' ich nicht alles mitbekommen, weil ich als freier Mitarbeiter von Düsseldorf aus gearbeitet habe. Aber natürlich waren die besorgt, dass drei Hefte indiziert werden, und das wäre tödlich gewesen. Dass zwei Hefte indiziert wurden, war ein deutlicher politischer Schuss vor den Bug. Der Chefredakteur hat aber ganz klar gesagt, dass ich so weiter arbeiten soll wie vorher. Mein Chef von der Düsseldorfer Beratungsstelle hat das Gleiche gesagt. Ich hatte da starken Rückhalt - auch innerhalb der Evangelischen Kirche.