Boulevard
   14 Jahre
Foto: Willi Weber

Der Eurovision Song Contest 2010

Die Wirtschaftskrise macht auch vor dem Song Contest nicht halt. Nicht nur, dass in Oslo von der Halle über die fehlenden LED-Wände auf der Bühne bis zum Pausenprogramm alles eine Nummer kleiner ausfällt als in Moskau. Auch die Beiträge verbreiten eher depressive Stimmung.

Jammern im Osten

Besonders ausgeprägt jammert der Osten. „What for are we living?“ fragt Lettlands Aisha, begleitet von einem Chor geknechteter Waschweiber, und zieht dazu ein Gesicht wie bei einer Wurzelbehandlung. Der Zuschauer unweigerlich auch, angesichts ihrer Gesangsleistung. Estlands Malcolm Lincoln hört gar Sirenen in seinem Kopf und lässt uns an seiner manischen Depression teilhaben. Danke!

Die litauischen Nachbarn beklagen ihren Status als EU-Bürger zweiter Klasse („…we’re not as legal as you“). Dazu lassen sie beim „East European Funk“ gar die Hosen runter! Der russische Helge Schneider, Peter Nalitch, gibt den Bettelstudenten und wehklagt, er sei „lost and forgotten“. Bei der Punktevergabe auf jeden Fall, seine Form der Ironie scheitert an der Sprachgrenze. Wie auch die Ukrainerin Alyosha. Ihr Beitrag „Sweet People“, eine flammende Anklage über die menschliche Verkommenheit, sorgt aufgrund ihrer Aussprache eher für Erheiterung: „The ant is really near“! Really? Noch besser: „All these fillings take me down“ – zumal noch von „sweet pee pull“ die Rede ist...

Sparen im Westen

Auch der Westen spart. Griechenland schickt wieder seinen Club-Med-Disco-Patentbeitrag, diesmal in der abgespeckten Klingeltonvariante. Der grimmig dreinblickende Georg Al Quaida, Verzeihung, Alkaios, wird von fünf lederbepackten Muskelgöttern begleitet, die im Gleichschritt über die Bühne stampfen und „Hey!“ und „Opa!“ grunzen – das wirkt irgendwie butch und camp zugleich. Island bügelt seinen Eurodisco-Beitrag von 2008 noch mal auf und lässt ihn kostensparend von der damaligen Backingsängerin Hera Björk vortragen.

Für die Schweiz präsentiert Segelohrschwuppe Michael von der Heide im Goldlaméjäckchen eine Ode an die Freuden der gelben Spielart („Il pleut de l’or“). Für Großbritannien recycelt Pop-Veteran Pete Waterman (Überlebende der Achtziger werden sich erinnern) altes Archivmaterial. Frankreich schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: das Dancehall-Stück „Allez! Ola! Olé!“ des Kongolesen Jessy Matador ist die Erkennungsmelodie des französischen Fernsehens zur Fußball-WM. Ein Fußballlied beim Grand Prix – so schockierend dieser Tabubruch für schwule Fans erscheint, so sehr ist hebt sich gerade dieser Titel aus dem Meer der balladesken Langeweile hervor.

Retro-Feeling in den Niederlanden

Manche Länder gehen auf die Zeitreise: die Niederlande beauftragten Vader Abraham („Das Lied der Schlümpfe“, 1977), ihren Beitrag zu schreiben. Und genau so klingt sein Drehorgelschlager „Ik ben verliefd (Sha-la-lie)“ auch. Irland grub seine Siegerin von 1993, Niamh Kavanagh, wieder aus und schickt die mittlerweile etwas schabrackig Aussehende mit einer Neuauflage des Titanic-Titelliedes in die Schlacht. Slowenien bietet eine Kreuzung aus Achtziger-Haarrock und den Original Oberkrainern. Spanien kommt mit einer (allerdings sehr charmanten) Neubearbeitung des deutschen Beitrags von 1969, „Primaballerina“.

Und so könnte der Sieger diesmal aus den Reihen der alten oder der neuen „Big Four“ (Türkei, Griechenland, Armenien und Aserbaidschan, die sich – der Diaspora sei Dank – stets für die Endrunde qualifizieren, und wenn sie einen Besen auf die Bühne stellten), kommen. Eva Rivas, die singende armenische Erika Steinbach, trägt mit „Apricot Stone“ eine wehmütige Ode ans heimische Nationalobst vor, das heute hauptsächlich in von der Türkei okkupierten Gebieten angebaut wird.

Der Erdölstaat Aserbaidschan, so verzweifelt auf Sieg aus wie zuletzt Russland, balgt sich unterdessen bei den Buchmachern mit Deutschland um die Favoritenrolle. Mit Deutschland? Jawohl, denn Lena Meyer-Landruts verspieltes „Satellite“ gehört neben „Drip Drop“ (Aserbaidschan), „We could be the same“ (Türkei) und „Allez! Ola! Olé!“ zu den wenigen Beiträgen, die wenigstens entfernt etwas mit dem Popgeschehen des aktuellen Jahrtausends zu tun haben.

Eurovision Song Contest 2010
1. Qualifikationsrunde: Di, 25.5., 21 Uhr (Deutschland ist stimmberechtigt)
2. Qualifikationsrunde: Do, 27.5., 21 Uhr
Finale: Sa, 29.5., 21 Uhr in der ARD.

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