Gesellschaft
   14 Jahre
Foto: Erwin In het Panhuis / Aufklärung und Aufregung: 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO

Dr. Martin Goldstein (alias Dr. Sommer)

Wird Ihre Einstellung zur Homosexualität von der Evangelischen Kirche geteilt?

In der Denkschrift der Evangelischen Kirche zur Sexualethik von 1971 steht in dem Kapitel über Homosexualität: Aufgabe der Kirche in der Sexualerziehung ist es, alle jungen Menschen in ihren unterschiedlichen Situationen zu verstehen und ihnen Hilfen zur sinnvollen Gestaltung ihres sexuellen Lebens zu bieten. Das ist nach wie vor gültig und wird auch nicht eingeschränkt. Dazu habe ich mich bekannt und mich beruflich orientiert - auch in Bezug auf mein Gewissen und meine Berufsethik. Der Jesus, den ich kenne, ist nicht der, der am Kreuz hängt und für meine Sünden gestorben ist, sondern der, der das Lamm auf der Schulter wieder zurück zur Herde bringt. Das ist ein Bild von Jesus, das sich weigert, die Welt zu teilen in oben und unten, richtig und falsch, Hetero- und Homosexualität, moslemisch und katholisch. Auch als mein Lexikon der Sexualität wegen seiner offenen Darstellungsweise von Sexualität indiziert werden sollte, war es der Verlag mit seiner evangelischen Tradition, welcher es vor der Bundesprüfstelle erfolgreich verteidigte.

Sie sind ja als Dr. Sommer vor allem wegen der Leserbriefe bekannt geworden?

Ja, und ich wundere mich bis heute, warum nur Dr. Sommer, aber nicht mein anderes Pseudonym Dr. Korff so bekannt wurde. Für eine Auswahl der in Bravo veröffentlichten Briefe hatte ich mir jeden Monat 100 Briefe quer durch alle Themen nach Düsseldorf schicken lassen und habe dann die Briefe ausgesucht, die auch veröffentlicht werden sollten. 4/5 aller Briefe kamen von Mädchen und ich habe dann darauf geachtet, dass von den 5 veröffentlichten Briefen wenigstens zwei von Jungen dabei waren. Schwul-lesbische Fragen waren ja immer ein Teil dieser horrenden pubertären Unsicherheit: Was ist richtig und was ist falsch? Was darf ich und was darf ich nicht? Für alle Briefe, die nicht in der Bravo, sondern direkt beantwortet wurden, hatten wir im Team ca. 150 Formbriefe erarbeitet, damit auch diese Tausenden von Fragen einfach und schnell beantwortet werden konnten.

In Ihren Beiträgen vermitteln Sie die männliche Homosexualität als gefestigter als die weibliche. Waren Sie da ein Opfer des Zeitgeistes?

Ja, das war mein absolutes Zeitbild. Das steckte in mir und das steckte auch in den damaligen Informationen, die ich mir verschaffen konnte. Heute bin ich viel freier und kenne auch mehr Personen, die im Leben – auch als erwachsene Personen - Sexualität mit beiden Geschlechtern erlebt haben. Auch Themen wie Ursache von Homosexualität oder der Unterscheidung zwischen angeborenem und erlerntem Verhalten – das sind ja eher Zeit- als Wissenschaftsfragen.

Gerade wegen Ihres Mutes, im Bereich der Sexualität eigentlich nichts zu tabuisieren, fallen bei näherer Betrachtung mehrere Themen ein, die Sie nie behandelten, wie z. B. die schwule bzw. lesbische Szene, die Sexualpraktiken von Schwulen und Lesben oder der gesamte Bereich HIV/AIDS.

Eine für mich wahrnehmbare schwule Szene hat es einfach nicht gegeben. Bei den Anfragen von Jugendlichen nach Gleichgesinnten hätte ich ansonsten in Bravo auch Adressen genannt. Unabhängig vom Thema kommt man mit Gleichgesinnten immer am besten weiter, weil man da nicht geschwächt, sondern gestärkt wird. Es gibt da übrigens auch eine Parallele zu meinem Leben: Ich habe erst allmählich gelernt, mit Schwulsein und Lesbischsein anders umzugehen. Und ausschlaggebend dafür waren nicht Bücher oder Studium, sondern der direkte Kontakt mit Schwulen und Lesben. Die Szene und auch die Bewegung waren aber bei weitem nicht so präsent, wie Sie sich das vielleicht vorstellen oder wie sie es heute sind. Zu den wenigen Dingen, die ich in diesem Zusammenhang wahrnahm, gehörte neben der Reform des § 175 im Jahre 1969 der Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. Ich weiß noch, dass mich der Film sehr aufgewühlt hat. Eine unglaubliche Realsatire wie auch der aktuelle Film Hape Kerkelings Isch kandidiere! Der Film brachte genau ins Bild, was ja eigentlich überhaupt nicht komisch oder seltsam war. Viele konnten jedoch mit diesem Film deshalb nichts anfangen, weil er aus dem schwulen Blickwinkel gedreht war. Das war neu.
In Bravo deutlich auf schwule und lesbische Sexualpraktiken einzugehen, wäre auch damals schon möglich gewesen. Aber auch ich musste erst mal lernen, eine gewisse Freiheit zu erlangen. Das müssen Sie mir zugestehen. Zu dieser Zeit wollte ich das noch nicht - ich wollte eine bestimmte Grenze nicht überschreiten.
Über HIV/AIDS gab es schon kurz vor meinem Ausscheiden bei Bravo viele öffentliche Berichte in den Zeitungen. Das war aber alles so widersprüchlich und ich musste mich erst einmal selbst orientieren. Ich meine, dass ich HIV/AIDS an einigen Stellen erwähnt habe und dort Kondome empfohlen habe. Aber ich habe mich da zurückgehalten, weil das alles noch viel brenzliger war und weil das, was man schrieb, gravierende Folgen haben konnte. Die Artikel, welche dann nach 1984 in Bravo erschienen sind, habe ich dann allerdings sehr kritisch gesehen – aber das war ja schon nach meiner Zeit bei Bravo.

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