Gesellschaft
   4 Jahre
Foto: Mikolaj Stefanski

Die Kraft der Chöre

Wie ein deutsch-polnisches Konzert Glück verbreitet.

Der alte Mann mit dem Hund bleibt stehen, als traue er seinen Ohren nicht. Hat er gerade einen Chor singen hören? Hier, in dieser unwirtlichen Ecke Warschaus? Glasfassaden neuer Bürokomplexe wechseln sich ab mit Ruinen grauer Plattenbauten aus sozialistischen Tagen im Stadtteil Sluzewiec. Hier wird gearbeitet, nicht gewohnt und schon gar nicht würde man in dieser Gegend Kultur vermuten. Heute aber machen sich hinter weißen Mauern 60 Sängerinnen und Sänger warm und proben für ein Chorkonzert, das es nach Ansicht vieler Polen gar nicht geben dürfte. Sie haben 130 Stühle aufgestellt in dem Raum, der wochentags als Fotostudio dient – in der Hoffnung, dass überhaupt jemand den Weg hierher findet. Eine Zeit lang sah es so aus, als würde der Warschauer Chor voces gaudii  - zu Deutsch etwa „Stimmen der Freude“ - gar keinen Vermieter von Veranstaltungsräumen finden, der bereit wäre, sie auftreten zu lassen. „Wir haben 77 Anfragen gestellt“, sagt Joanna und scrollt in langen Reihen von Mails, die sie und die anderen Chormitglieder geschrieben hatten. Manche sagten erst zu, und als sie erfuhren, dass voces gaudii ein LGBT Chor ist, gab es plötzlich einen Buchungsfehler oder etwas war angeblich übersehen worden und die Reservierung wurde gecancelt. Etliche teilten auch ganz offen mit, dass sie einen schwul-lesbischen Chor nicht unterstützen würden. „Man will uns nicht“, sagt Joanna schulterzuckend. „Aber das kennen wir schon. Umso wichtiger, dass wir das hier heute machen.“

 

Erst vor fünf Jahren gründete Misza Czerniak den Chor und von Anfang an wollten er und die anderen jungen Männer und Frauen mehr als nur zusammen singen. „Uns ist wichtig, sicht- und hörbar zu sein als fröhliche und laute Stimmen gegen die Hetze und die Beleidigungen durch unsere Regierung“, sagt Misza. Die nationalkonservative PiS Partei macht seit ihrem Sieg bei den Parlamentswahlen 2015 Stimmung gegen sexuelle Minderheiten und hat im diesjährigen Wahlkampf den Ton nochmal verschärft. Sie setzen Homosexualität mit Kindesmissbrauch gleich, schwadronieren von einer LGBT Invasion, sehen gar die Freiheit Polens bedroht. Etliche von der PiS-geführte Gemeinden haben sich während des Wahlkampfs symbolisch zu „LGBT frei Zonen“ erklärt. Nach den Migranten hat die Regierungspartei nun Schwule, Lesben und Transgender als Feindbild entdeckt, um die rechtskonservative Wählerschaft hinter sich zu halten – mit Erfolg. Bei der Wahl im Oktober erlangte die PiS satte Zugewinne und die absolute Mehrheit. Unterstützt wird die anti LGBT Kampagne durch bekannte Amtsträger der in Polen sehr einflussreichen katholischen Kirche. Marek Jedraszewski, Erzbischof von Krakau, predigt über die angeblich drohenden Folgen einer „Regenbogen-Plage“ für die polnischen Familien. Und die vergiftete Saat geht auf: Bei LGBT Paraden wurden dieses Jahr in mehreren polnischen Städten Demonstranten angegriffen, mit Steinen und uringefüllten Flaschen beworfen. In Breslau stoppte die Polizei einen Mann, der mit Messern auf Teilnehmer der Parade zulief. Beim CSD in Lublin wurde eine selbst gebastelte Bombe entdeckt. 

„Bei allem, was wir planen, haben wir im Hinterkopf, dass die Zahl der Hass-Verbrechen in diesem Jahr um 20% angestiegen ist“, sagt Chorleiter Misza. „Für unsere Konzerte suchen wir deshalb Orte, die kameraüberwacht sind – viel mehr können wir nicht tun.“ Der LGBT Chor hat in den sozialen Medien Zeit und Ort des Konzerts genannt. „Wir wollen hier ein Fest der Freundschaft, der Solidarität und Liebe feiern und falls Störer kommen,  werden wir lauter sein als sie, denn wir haben heute Unterstützung aus Deutschland“, sagt Misza und lacht. dIETAKTLOSEN, erster lesbisch-schwuler Chor aus Köln, sind nach Warschau gekommen, um voces gaudii zu unterstützen. Beide Chöre hatten sich bei einem internationalen Festival von LGBT Chören kennengelernt und bereits ein gemeinsames Konzert in Köln gegeben. „Für uns stand fest, dass wir nach Warschau kommen würden, wenn voces gaudii uns einlädt“, sagt Ilka Tenne-Mathow, Chorleiterin der 32 Kölner Sängerinnen und Sänger. „Weil die beiden Chöre musikalisch zu einander passen und weil wir diese jungen Leute für ihr Engagement und ihren Mut bewundern.“ dIETAKTLOSEN hatten vor einiger Zeit noch darüber diskutiert, ob man sich in der LGBT Hochburg Köln überhaupt noch „lesbisch-schwuler Chor“ nennen sollte. Hier in Warschau aber fühle sich der Untertitel richtig und wichtig an, finden alle. In Köln gibt es acht LGBT Chöre, in ganz Polen nur zwei. 
 

„Dieses Konzert heute ist das schönste, was mir dieses Jahr passiert. Ich freue mich seit Monaten darauf“, sagt Karol (25).  

Er hat einen Schal um den Hals geschlungen und klingt verschnupft, gestern hatte er noch Fieber. Aber das Konzert verpassen? „Kommt nicht in Frage. Lieber bin ich danach völlig im Eimer“, meint Karol und lacht. Er ist vor drei Jahren zu voces gaudii gestoßen und die Mitgliedschaft in dem LGBT Chor hat sein Leben ziemlich verändert. Als seine Eltern davon erfuhren, sorgten sich um den Ruf der Familie und legten dem Sohn nahe, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Karol kämpft sich seitdem mit wechselnden Jobs durch und mit wechselnden Beziehungen. „Es fühlt sich mies an, wenn du deine Liebe nie offen zeigen kannst,“ sagt Karol. Händchenhalten auf der Straße – das trauen sich schwule Männer nicht einmal in der Metropole Warschau, die sich so westlich gibt. Zwei andere junge Sänger aus dem Chor sind kürzlich verprügelt worden, als sie vor einer Szene Bar standen, um zu rauchen. Die Polizei hat den Vorfall widerwillig aufgenommen, aber nicht ermittelt. Seit eine Regierung an der Macht ist, die verbal auf Minderheiten zielt, trauen sich Andere, auch Fäuste einzusetzen. Zur Züchtigung für ein Vergehen namens Liebe. Eine Liebe, die in Polen nicht sein soll.  

 

Vor fünf Jahren traute sich der frisch gegründete Chor voces gaudii zum ersten Mal in die Öffentlichkeit. Für einige Chormitglieder war dieser Moment ihr Coming Out als lesbische Frau oder schwuler Mann. Zu Füßen der Sigismundsäule, einem Wahrzeichen Warschaus, sangen sie das alte Protestlied „We shall overcome“. Nur wenige Passanten blieben damals stehen. Vielleicht weil sie noch zu zaghaft sangen, vielleicht weil dieser Moment für Einige dann doch zu viel Mut erforderte. Inzwischen sind sie lauter geworden und bunter. Von den 36 Mitgliedern sind etwa ein Fünftel heterosexuell, einige haben Kinder. Demnächst wollen sie in der besonders konservativen Grenzregion zu Russland auftreten und erst nach dem Schlussapplaus darüber aufklären, dass sie ein etwas anderer Chor sind. Aber was ist, wenn das Publikum aggressiv reagiert? Chorleiter Misza zuckt mit den Schultern. „Wir wollen doch andere ermutigen mit unseren Auftritten. Wie soll das gehen, wenn wir selbst Angst haben?“

Der Einlass hat begonnen und ein paar Stühle sind schon besetzt. Misza schaut etwas skeptisch drein. „Ich hoffe, dass wir wenigstens unsere Auslagen wieder rein bekommen“, sagt er. Der Chor hat kaum finanzielle Mittel, viele der überwiegend jungen Mitglieder studieren noch. Hinter der Bühne drängen sich jetzt Warschauer und Kölner Sängerinnen und Sänger vor dem Spiegel und machen sich hübsch für den Auftritt. „Es ist so toll, dass ihr hier seid, das bedeutet uns viel“, sagt Joanna aus Warschau zu Britta aus Köln. „Uns auch,“ antwortet Britta, trägt den knallroten Lippenstift auf, hebt dann die Faust und ruft: „Solidarnosc!“ 

Um Punkt acht Uhr öffnet Chorleiter Misza die Tür zur Bühne und blickt um die Ecke, seine Augen strahlen. „Es ist voll“, flüstert er. Während die Sängerinnen und Sänger in den Saal schreiten, schauen sie sich alle nochmal in die Augen, wünschen sich Glück und viel Spaß. Die Chöre umringen das applaudierende Publikum für das erste Lied. Es wird ganz still, Chorleiter und Chorleiterin lächeln sich kurz an, dann erfüllt ein satter, schöner Klang den Saal. „Come in and stay a while“, tönt es aus 62 Kehlen. Wer wollte jetzt auch gehen, bei so viel polnisch-deutscher Harmonie? Mehr als drei Stunden singen die Chöre mal im Wechsel, mal zusammen: Popsongs, traditionelle Lieder in Jazz-Versionen, neu Arrangiertes. Manche Passagen sind so laut, dass die Töne im Raum hängen bleiben, dann wieder singen die Chöre so zart, dass man sie kaum noch hört. Ein anspruchsvolles Programm auf hohem Niveau, auch sprachlich. Mal singen die Kölner auf Polnisch, mal die Warschauer auf Deutsch, beide auf Englisch. Es geht um die ganz großen Fragen: Worauf kommt es an im Leben? Wie verlieren wir das Träumen nicht? Wie werden wir glücklich? Nach der letzten Zugabe steht jeder im Saal, es fließen Tränen. Das Publikum will die Sängerinnen und Sänger nicht gehen lassen, so scheint es. 

 

Zwei Tage später sind dIETAKTLOSEN zurück in Köln – erschöpft und erfüllt. Eine Nachricht aus Polen landet in der Whatsapp Gruppe des Chores. Joanna aus Warschau schreibt: “Eine persönliche Sache noch. Im Publikum saß eine Freundin von mir mit einem 14-Jährigen schwulen Sohn, der bislang nicht die beste Kindheit hatte. Drei Stunden lang hat er unser Konzert völlig regungslos angehört. Auf dem Weg nach Hause brach er dann in Tränen aus, denn er hatte noch nie Schwule und Lesben gesehen, die so glücklich und voller positiver Energie waren. Vielleicht werde ich ja auch einmal so, meinte er zu seiner Mutter.“

 

dIETAKTLOSEN müssen sich jetzt in die Proben stürzen für ein großes Kölner Konzert im Herbst. Aber ganz sicher wird es auch wieder nach Polen gehen, denn die gemeinsame Kraft dieser zwei Chöre bewirkt ganz offenbar kleine Wunder.

 

Weitere Infos zu den Chören:
Webseite dIETAKTLOSEN
Facebook dIETAKTLOSEN

Webseite voces gaudii
Facebook voces gaudii

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