Gesellschaft
   14 Jahre
Foto: Erwin In het Panhuis / Aufklärung und Aufregung: 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO

Dr. Martin Goldstein (alias Dr. Sommer)

Sind Sie in ihrem Leben eigentlich vielen Schwulen und Leben begegnet?

Bestimmt oft, aber wissen Sie: Ich habe das gar nicht immer so gemerkt. Ich bin da ein bisschen doof! Es gab schon viele Menschen, mit denen ich regelmäßigen Kontakt hatte. Und da habe ich manchmal nebenbei erfahren, dass die schwul oder lesbisch waren. Ich war ja auch mal 15 Jahre mit einer Frau zusammen, die vorher nur lesbische Verhältnisse hatte und die auch während unserer Zeit lesbische Beziehungen hatte. Ich war der erste Mann, mit dem sie geschlafen hat. In Teenagerliebe steht das etwas versteckt drin. Für mich war sie eine sehr große Liebe.

Sie haben beim Christopher Street Day 2009 in Düsseldorf mitgewirkt?

Ich hatte da ein kurzes Bühnenprogramm auf dem Gustav-Gründgens Platz. Später wurde ich auch über den Platz geführt und mit verschiedenen Leuten bekannt gemacht. Die waren unglaublich freundlich und vermittelten mir ein schönes Gefühl von Verbundenheit. Ich wusste vorher überhaupt gar nicht, was der CSD ist, und dadurch habe ich ihn sowohl als gesellschaftliches Ereignis als auch menschlich erfahren. Das war für mich eine wichtige Erfahrung. Ich weiß, dass viele ältere Leute einzelne Auftritte beim CSD als Provokation empfinden. Für mich war es aber eine viel größere Provokation, als vor kurzem der Ministerpräsident Roland Koch den ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender absägte. Darüber sollten sich die Leute aufregen! Aber ich will nicht verschweigen, dass ich beim CSD auch an meine eigenen Grenzen komme. Aber daran kann man ja arbeiten. Das fliegt auch mir nicht zu!
Nur von Begriffen wie Regenbogenfamilien halte ich gar nichts - weil ich mittlerweile generell von isoliert lebenden Familien nichts halte. Man sollte auch keine eigenen Ausdrücke prägen, weil man damit nur etwas zementiert. Natürlich braucht man eine Gemeinschaft, die einen schützt und stärkt. Eine Kleinfamilie produziert aber allenfalls schwierige Persönlichkeiten, die später nur den Therapeuten nützen.

Sie sind demzufolge kein Familienmensch mehr?

Das stimmt. Heute finde ich Kommunitäten gut, die aus vielen Menschen bestehen. Ich lebe ja in einer solchen Kommunität, die ich nicht nur als eine Wirtschafts-, sondern als eine Lebensgemeinschaft ansehe. Ursprünglich waren wir zu acht, auch wenn wir jetzt nicht mehr vollzählig sind. In der Wohnung, in der ich heute wohne, haben sich über viele Jahre Männergruppen getroffen. Ich habe auch mal sechs Jahre in einem Männerhaus mit vielen familienmüden Therapeuten gewohnt, was eine wertvolle Erfahrung für mich war. Die ganze Welt verstand das nicht, dass da nur Männer, aber keine Frauen zusammen wohnten. Donnerstags hatten wir für andere Männer immer einen offenen Abend. Meine damalige Lebenspartnerin war da fast neidisch, dass ich das Männerhaus als Zuhause ansah.

Sie sind mit 82 Jahren immer noch kirchlich aktiv?

Ja. Am nächsten Wochenende treffe ich mich z. B. mit einigen Konfirmanden, die Dr. Sommer kennen lernen wollen. Wir werden dann zusammen interaktiv ein Dr.-Sommer-Team bilden und den Fall Marco behandeln. (Anmerkung: Der Fall des 17-jährigen Marco Weiss sorgte 2007 für großes Aufsehen. Er saß acht Monate in türkischer Haft, weil es zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen zwischen ihm und dem 13-jährigen Mädchen Charlotte gekommen war.) Wir bilden dann ein Team für Marco, ein Team für Charlotte und ein Team für die Mutter des Mädchens und erarbeiten dann die unterschiedlichen Perspektiven dieses Falles, weil es da ja mehrere unterschiedliche Geschichten gab. Leider hat die Presse - die alles nur auf das Wort Missbrauch reduzierte - daraus noch eine weitere Geschichte gemacht. Der Fall macht doch deutlich, dass Menschen unter 14 Jahren keine sexuellen Erlebnisse haben dürfen, und das halte ich für pädagogischen Unfug. Und darum ist auch in meinem Buch Teenagerliebe das Mädchen Heloise 13 Jahre alt. Das Mädchen mit seinen Fragen zur Sexualität gibt es nicht wirklich, sondern sie ist eine Mischung aus meiner Tochter, meiner Enkelin und dieser Charlotte.

In Teenagerliebe beschreiben Sie auch die Liebesschule Potsdam. Was ist das?

Meiner Meinung nach sind die Eltern für die Aufklärung am schlechtesten geeignet. Die Eltern geben Kinder nicht frei, bremsen und setzen viel zu viele Schranken. Jugendliche brauchen Vertrauenspersonen außerhalb der Familie. Und genau das praktiziert die Liebesschule Potsdam, indem sie initiiert statt aufklärt. Ich lehne das Wort Aufklärung ab, weil sie nur dort stattfindet, wo vorher etwas verschwiegen wurde. Bei den Initiationen sind Mädchen für sich und Jungen für sich: Sie können bei regelmäßigen Treffen mit anderen Erwachsenen alles besprechen, was sie interessiert. Ich war begeistert, als ich vor einigen Jahren dieses Projekt kennen lernte, und versuche es im Rahmen der evangelischen Jugendarbeit zu fördern.
Teenagerliebe ist insgesamt recht spezialisiert auf Heterosexualität. In Anders als bei Schmetterlingen und in meinem Lexikon der Sexualität gibt es ja eigene Kapitel zur Homosexualität – weil es damals einfach in eine Beratung dazugehört. Eigentlich wäre es aber besser, wenn solche Bücher gar nicht mehr zwischen Homo- und Heterosexualität unterscheiden würden.

Teenagerliebe ist ein Plädoyer für die Abschaffung des Dr. Sommer?

Genau. Wegen dieser Äußerung im Buch ist mir übrigens von der Bravo-Redaktion mitgeteilt worden, dass sie meine Kontaktdaten nicht mehr an Interessierte weitergibt. Auch wenn mich das jetzt nicht besonders belastet - kleinkariert finde ich das schon!
Aber was das Plädoyer angeht: Dr. Sommer hat in 14 Jahren vielleicht eine halbe Million Briefe erlebt und beantwortet. Wie lange soll so was denn noch weitergehen? Die Antworten sind doch nichts anderes als neue Flicken auf alte Reifen. Jugendliche in der Pubertät stecken nach wie vor in einer Krise, und ich halte es für eine Schande, dass sich Kinder zwar Pornos im Internet angucken können, sie aber gleichzeitig von Eltern und Schule immer noch mehr Sanktionen als Hilfe bekommen. Das ist doch alles voller Ungerechtigkeit. Die Gesellschaft trägt hier eine Verantwortung, und in den letzten Jahrzehnten hat sich leider nur wenig gebessert.
Die Informationsquellen für Jugendliche müssen Erwachsene im direkten Gespräch sein. Da muss man nicht Experte sein oder Arzt, sondern gar nix, einfach ein Erwachsener wie Sie! Es geht nicht so sehr um Wissen, sondern um zuhören können und Gesprächsbereitschaft. Bei dem Bravo-Jubiläum 2006 hat ein Postmann aus Sachsen-Anhalt ganz spontan zu mir gesagt: Ich hab’s auch ohne Sie herausgekriegt. Er hatte vollkommen Recht. Auf die Aufklärung durch Bravo können Jugendliche verzichten - auf taktvoll hilfreiche Begleitung von Erwachsenen nicht.

Das Interview entstammt dem Buch "Aufklärung und Aufregung: 50 Jahre Schwule und Lesben in der BRAVO" von Erwin In het Panhuis, Archiv der Jugendkulturen, geb., 195 Seiten mit zahlreichen farbigen Abbildungen, 28 Euro

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